4.WAS DER SELBSTLIEBE – BEWEGUNG FEHLT

image Das Erwachen aus der Verzerrung durch Unterdrückung beginnt mit Zartheit: Wir erkennen unsere eigene verletzte Zartheit, die sich zur Zartheit der Verletzlichkeit entwickelt und in der Zärtlichkeit gipfelt, die mit einer tief empfundenen echten Befreiung einhergeht.«

Carol Osborn

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Triggerwarnung: Körperlicher Angriff
und psychischer Missbrauch in der Kindheit

GOOGLE-SUCHE: »Was ist Selbstliebe?«

Therapie-Blog: »Selbstliebe bedeutet, deinen Wert zu kennen und dich nicht mit weniger zufriedenzugeben, als du verdienst.«

Selbsthilfe-Blog: »Selbstliebe bedeutet, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft anzunehmen – sie zu ›umarmen‹.«

Lifestyle-Blog: »Selbstliebe bedeutet, dass du morgens mit einer enthusiastischen, positiven Einstellung aufwachst!«

FÜR BRUCE WAR ES UNVORSTELLBAR, aufzuwachen und dem Tag mit einer positiven Einstellung entgegenzusehen. Es war nicht seine Schuld, aber jeder Tag begann mit ungeheurer Angst, die ihn stets begleitete. Und er konnte seine Vergangenheit nicht »umarmen«; im Gegenteil, seine Vergangenheit hatte ihn schon viel zu sehr im Klammergriff. Seine Vergangenheit hatte ihm das unabänderliche Gefühl eingeimpft, dass die Welt ein gefährlicher Ort sei. BRUCES defensive Teile spielten verrückt, setzten seinen Willen außer Kraft und sorgten dafür, dass er Tag und Nacht auf der Hut war. Das bedeutete: Er brach das College ab, harrte in Jobs aus, die ihm nichts bedeuteten, hielt sein Sozialleben auf Sparflamme und ging engen und intimen Beziehungen aus dem Weg. BRUCE gab sich mit weniger zufrieden, als er verdiente, denn sich für mehr zu entscheiden, flößte ihm Angst ein.

Ich traf BRUCE sieben Jahre, nachdem er im Schlaf in seinem Wohnheimzimmer am College überfallen worden war. Der bösartige Angriff hatte sich ihm fast unauslöschlich eingeprägt und eine starke Botschaft an sein Nervensystem gesandt: dass er, wenn er schon im Schlaf in seinem eigenen Zuhause in eine lebensbedrohliche Situation geraten konnte, nirgendwo mehr sicher sei. Seine unaufhörliche Angst sorgte dafür, dass er die erforderliche Energie für die mühsame Aufgabe aufbrachte, ständig in Habachtstellung zu sein, seine Umgebung nach möglichen Bedrohungen abzuscannen und sein Gedächtnis nach allem zu durchforsten, was er falsch gemacht und Falsches gesagt haben könnte. Der Angst lagen tiefe Gefühle zugrunde und die Annahmen, er hätte den Angriff selbst herbeigeführt, verdiene keine Liebe, sei es nicht wert, Gutes zu erfahren, und niemand wolle jemals wirklich für ihn da sein.

Obwohl BRUCES Geschichte und seine Erfahrungen einerseits ganz individuell sind, fällt mir andererseits doch auf, wie universal solche grundlegenden Gefühle und Überzeugungen sind. Wie viele von uns fühlen sich ungeachtet dessen, was sie durchgemacht haben, wertlos und verlassen, glauben nicht, dass sie Gutes verdienen, oder leben mit dem unterschwelligen Gefühl, dass das Unausweichliche gleich passieren wird ? Wie viele von uns haben zwar eine ganze Menge dafür getan, dass ihr Leben besser wird, haben aber dennoch Modelle der »Selbstliebe« übernommen, die zur Folge haben, dass Teile von uns, die sich wertlos fühlen, »abgeschaltet« werden? So viele Menschen tragen eine Vorstellung von Selbstliebe in sich, die darin besteht, unseren inneren Kritikern den Stinkefinger zu zeigen und sich im Namen einer positiven Einstellung gegen leidvolle Erinnerungen abzuschotten.

Wenn wir sehen, dass solche negativen Überzeugungen von inneren Teilen vertreten werden, denen es nicht gut geht oder die auf frühere Erfahrungen reagieren, in denen uns Liebe vorenthalten wurde (ganz zu schweigen davon, dass wir um sie betrogen wurden), dann wird uns klar, dass ein solcher Ansatz im Grunde Selbstmissbrauch ist. Im besten Fall handelt es sich um eine bedingte Form der Selbstliebe, und Liebe, die an Bedingungen geknüpft ist, ist keine Liebe – sie ist ein Geschäft. Wir haben damit Teile von uns im Stich gelassen, die sich ohnehin schon im Stich gelassen fühlen, und wir haben Teile von uns verprügelt, die sich ohnehin schon wie ein geprügelter Hund fühlen. Wenn wir innehalten, die Verschmelzung auflösen und neugierig auf die Teile von uns werden, die in Schmerz, automatischen Reaktionen und negativen Überzeugungen über uns selbst feststecken, dann bieten wir ihnen genau das an, was ihnen die ganze Zeit gefehlt hat.

Auch wenn ich in meinen obigen Beispielen die Google-Treffer-Version der Lehren über Selbstliebe untergrabe, liegt die Selbstliebe-Bewegung von ihrer Grundausrichtung her nicht falsch – ich bin ein großer Fan der Selbstliebe. Viele Ansätze, die ich kennengelernt habe, bewegen sich jedoch in einem Spektrum von naiv bis hin zu auto-aggressiv. Was der Selbstliebe-Bewegung fehlt, sind Techniken, wie wir zu Gefühlen der Liebe, der positiven Wertschätzung und des harmonischen Einklangs in uns gelangen können, ohne unsere schwierigen Teile anzugreifen, zu verdrängen oder zu ignorieren. Ich habe zwar geschrieben, »ohne unsere schwierigen Teile anzugreifen …«, aber genauer wäre es, zu sagen, dass wir gar nicht zu einer echten, umfassenden Selbstliebe gelangen können, solange wir noch solche Formen der Täuschung oder Selbstaggression praktizieren. Allgemeine Einsichten über die Beziehung, die wir zu uns selbst haben, waren ein guter Anfang, doch wir müssen tiefer gehen, wenn wir die Energie der Liebe wirklich freilegen und sie dann nach innen lenken wollen, hin zu jenen Teilen unserer selbst, die wir gewöhnlich für nicht liebenswert erachtet haben.

INNERLICH LIEBE SENDEN UND EMFANGEN

BRUCE ERZÄHLTE MIR SCHON BALD, dass der Überfall im College nicht das erste Mal war, dass er sich in einer Situation heftigen Missbrauchs hilflos fühlte. Er war mit einem alkoholkranken Vater aufgewachsen, der ihn verbal angriff, einschüchterte und der routinemäßig verschwand. Seine Mutter meinte es zwar gut mit ihm, wurde aber ebenfalls misshandelt und war selbst nicht in der Lage, Bruce angemessen zu trösten, geschweige denn, sich für ihn einzusetzen. Bruce war das einzige Kind einer Arbeiterfamilie und lernte schnell, dass er am sichersten damit fuhr, seine eigenen Bedürfnisse herunterzuschrauben und unglaublich selbstständig zu werden. Das war zwar eine kluge Entscheidung für ein Kind in einer solch unmöglichen, leidvollen Situation, aber es schuf für ihn im Erwachsenenalter das Paradigma, er müsse sich ständig vor seinem eigenen Schmerz verstecken – bis dieser Schmerz sich buchstäblich in sein Schlafzimmer drängte.

In unseren gemeinsamen Sitzungen unterstützte ich BRUCE dabei, neugierig auf seine ängstlichen Teile zu werden, und stellte diesen einige Fragen in der Art, wie ich sie weiter oben schon formuliert habe: »Wie lange schützt ihr mich schon auf diese Weise?«, »Gefällt es euch, so zu sein, oder findet ihr es anstrengend?«, »Wenn ihr mich nicht mehr auf diese Weise beschützen müsstet und anders sein könntet, wie würde das aussehen?« Diese und andere Fragen öffneten seinen ängstlichen Teilen die Tür zu der Vorstellung, dass eine andere Welt möglich sein könnte. Als Nächstes unterbreiteten wir seinen defensiven Teilen einen neuen Vorschlag: »Wenn ihr uns erlaubt, jene inneren Teile zu heilen, die die Verletzungen all dieser widrigen Erfahrungen in sich tragen, dann hättet ihr vielleicht nicht mehr das Gefühl, auf dieser Welt sei alles zu viel für euch und zu gefährlich, und ihr bräuchtet nicht mehr so ängstlich zu sein.«

So konnten seine defensiven Teile leichter darauf vertrauen, dass die Arbeit, die wir taten, einen Wert hatte. Das war ein wichtiger Schritt, denn wir wollen auf keinen Fall mit unserem inneren Kind arbeiten, solange unsere Abwehrkräfte sich noch dagegen sträuben. Schließlich sind sie der Klebstoff, der unser Leben über diese ganze Zeit hinweg zusammengehalten hat. Sie verdienen wahrhaftig unseren Respekt und unsere Anerkennung.

Etwas über ein Jahr lang habe ich BRUCE geholfen, in sich zu gehen, seine verletzten Teile wahrzunehmen, sich von ihnen zu entschmelzen und ihnen die Energie der Fürsorge und Neugierde zukommen zu lassen. Er ging Erinnerungen nach, zum Beispiel an Situationen, als er draußen spielte und sein Vater regelmäßig die Fliegengittertür zum Haus öffnete, ihn bösartig anbrüllte, die Tür wieder zuschlug, nur um einige Minuten später zurückzukehren und ihn erneut anzuschreien. Aus einem Zustand der Selbstliebe heraus war BRUCE in der Lage, mit dem Teil zu sprechen, der noch immer den Schmerz und die wachsame Vorsicht aus diesen Erlebnissen in sich trug; er konnte die Geschichte dessen, was geschehen war, bezeugen und schließlich diesen Kind-Teil mit einigen neuen Perspektiven bekannt machen: »Dad ist nicht mehr da. Wir sind jetzt Erwachsene und haben ein ganz anderes Leben. Wir sind jetzt in vielerlei Hinsicht stärker. Wenn wir erneut auf diese Weise verletzt würden, könnten wir nicht nur für uns selbst einstehen – wir sind jetzt auch resilienter und könnten einen Weg finden, dass wir schließlich gut klarkommen. Ich bin jetzt Dad.«

Es kam eine wirkungsvolle Sitzung, in der BRUCE diese Erinnerung erneut durchlebte, um diesen Teil noch einmal zu beeltern, er sich selbst also elterliche Fürsorge zuteilwerden ließ. Er half seinem verletzten inneren Kind, sich gegenüber seinem Vater zu behaupten und ihm mitzuteilen, dass sein Verhalten inakzeptabel und falsch war. Anschließend brachte BRUCE diesen verletzten Teil an einen neuen Ort in seinem Bewusstsein, einen Ort, den er als sicher und mit der Natur verbunden empfand. Er schenkte diesem inneren Teil ebenfalls einen Welpen, damit es seinem inneren Kind leichter fiel, sich geborgen zu fühlen.

BRUCE erzählte mir später, dass die Erinnerung an das, was er mit seinem Vater durchlebt hatte, nach unserer Sitzung nicht mehr dieselbe war. Wir hatten sie tatsächlich umgeschrieben. Die emotionale Energie, die zuvor in diese Erinnerung eingebunden war, war nun verschwunden. Bildete er sich das nur ein? Sag du es mir. Denn heute hat er zum ersten Mal seit sieben Jahren ein Date – und freut sich darüber. Er hat eine Arbeit, die ihm gefällt und mit der er mehr Geld verdient als je zuvor. Er hat Freunde, geht Risiken ein und lässt zu, dass er gesehen wird. Und seine Angst ist weg. Die angespannte Furcht und der Druck, die ewig im Hintergrund all seines Erlebens lauerten: verschwunden. »Ich habe gedacht, so fühlt sich das Leben nun mal an«, sagte er in einer Sitzung. »Es ist fast schon sonderbar, dass die Angst nicht mehr da ist.« Und jetzt kommt mein Lieblingsteil: Er geht wieder zur Schule – um Therapeut zu werden! Nachdem er sich selbst geheilt hat, dreht sich BRUCES Leben jetzt um die Frage: »Was kann ich zurückgeben? Wie kann ich jemand werden, der andere bei der gleichen Transformation begleitet?«

AUF DEN VERBLEIBENDEN SEITEN des zweiten Teils dieses Buches werden wir die Zärtlichkeit und das Liebevollsein weiter erkunden. Wir können sie entdecken und verstärken, indem wir das Prozess-Paradigma anwenden, das wir in der obigen Fallstudie mit BRUCE veranschaulicht haben. Dieser Ansatz basiert im Wesentlichen darauf, dass wir unsere Persönlichkeit als etwas Multiples sehen. So vieles von dem, was die Selbstliebe-Bewegung falsch auffasst, ist das Ergebnis dessen, dass sie uns bzw. unsere Persönlichkeit als eine Art monolithische, singuläre Einheit sieht. Man hat uns beigebracht, uns so wahrzunehmen. Wenn wir uns jedoch genau unter die Lupe nehmen, wenn wir einen gründlichen Blick auf unser Inneres werfen, löst sich diese Sichtweise auf. Dann nehmen wir unser Innenleben allmählich als fließend, dynamisch, facettenreich, weiträumig und als etwas Überraschendes wahr.

Wenn wir die Multiplizität unseres Wesens anerkennen, wird das Konzept der Selbstliebe stimmig. Denn auf der Ebene des Gefühls und der inneren Beziehung ein sich selbst liebender Mensch zu sein bedeutet zwangsläufig, sowohl Sender als auch Empfänger von Liebe zu sein. Wenn wir davon ausgehen, dass wir ein festgefügtes, einheitliches Ich sind, wie um alles in der Welt könnte dann Eigenliebe gesendet und empfangen werden? Wer sendet und wer empfängt? Und desgleichen: Wer ist der innere Kritiker und wer wird kritisiert? Wohin führt uns das in dem Moment, in dem in uns das Gefühl aufkommt, wir würden nicht geliebt – ganz zu schweigen von Gefühlen regelrechten Selbsthasses? Eine solche Sichtweise lässt uns auf einer Insel negativer Selbstsicht stranden – ohne Tretboot.

Glücklicherweise »enthalten wir Vielheiten«. Glücklicherweise sind wir in der Lage, es zu merken, wenn zum Beispiel unser innerer Kritiker die Oberhand gewonnen hat. Dann können wir uns von diesem Teil von uns desidentifizieren – die Verschmelzung auflösen –, die großzügigere, einfühlsamere Energie in uns lokalisieren und davon ausgehend ein sinnvolleres Gespräch mit dem inneren Kritiker führen. Dieses Modell der Selbstliebe verlangt von uns nicht, dass wir uns in irgendeiner Weise verbiegen.

Und dieser Rahmen bietet uns ein Modell der Selbstliebe, das Raum für die schwierigen sozialen Gegebenheiten lässt, mit denen viele von uns konfrontiert sind, die sie aber dennoch oft aus dem Gespräch ausklammern. Selbstliebe muss bedeuten: Liebe zur Gesamtheit all dessen, was uns ausmacht. Das erfordert das Miteinbeziehen der sozialen Narrative über Aspekte unserer selbst – Ethnie, Geschlecht, sexuelle Orientierung, körperlicher Typ usw. –, die unsere innere Welt mitbestimmen und zu den Hauptgründen gehören, warum viele unserer verletzten, defensiven oder wütenden Teile überhaupt erst eine so herausragende Rolle in unserem Leben erlangt haben. Über Selbstliebe zu sprechen, ohne die gesellschaftlichen Strukturen und Bedingungen, mit denen wir konfrontiert sind, zu erwähnen – das bedeutet, einen wesentlichen Teil des Bildes auszublenden.

Unser Dasein ist von Pluralität geprägt: Wir sind ein Herz mit vielen Teilen. Wir sind eine Psyche mit vielen geistigen und seelischen Aspekten. Das öffnet Türen – und es sind Türen, die dringend geöffnet werden müssen, denn wie Bruce sind wir zwar nicht schuld an der Konditionierung, die uns dahin gebracht hat, wo wir jetzt sind, aber wir sind auf jeden Fall dafür verantwortlich, was wir damit anfangen.